Mittwoch, 16. März 2011

Facebook gibt dem Horror in Japan ein Gesicht

Update: Die in diesem Artikel beschriebene Konversation wurde bei uns am 08.03.2012 uneditiert veröffentlicht: http://lastjunkiesonearth.blogspot.com/2012/03/letters-from-fukushima.html

Genau zu dem Zeitpunkt, als der erste Reaktor in Fukushima außer Kontrolle gerät, schnappe ich die Facebook Meldung eines Japaners auf: „please give me information. should I need to run away from here?”, postet H. in die Masse.
Wir schreiben einen Kommentar, er solle Richtung Süden gehen, weg von den Fukushima Reaktoren. H. holt sofort sein Geld von der Bank und macht sich auf den Weg. „want to escape from here.... train is still not available“ , twittert er zurück. Dann meldet er sich von unterwegs. Shinkansen, Nagoya, Shinosaka, Hiroshima. H. kommt aus Tsukuba, eine Stadt 200 Kilometer von der Nuklearanlage Fukushima entfernt. Es gibt kein Wasser mehr dort, auf dem Weg war es schwierig, Nahrung zu bekommen, schreibt er. Keiner weiß, wie lange es noch Benzin geben wird.
H. fährt weiter bis Kyushu, zu seinen Eltern. Er schreibt mir, dass seine Firma die Arbeit wieder aufnehmen will und ihn bittet, nach Tsukuba zurückzukehren. Den Aussagen der japanischen Medien misstraut er, er bittet mich um Rat. Ich sei sein einziger europäischer Kontakt. Alles, was ich ihm schreiben kann, sind die aktuellen Meldungen europäischer Medien, die zu diesem Zeitpunkt schon vor einem möglichen Super-Gau warnen. Ich rate ihm davon ab, wieder Richtung Norden zu fahren, gerade als die erste Reaktorhülle explodiert.
H. schreibt, er zweifelt an dem japanischen System, fragt sich, wie viel Menschlichkeit noch darin steckt, ob man vielleicht erst wieder zum Menschen wird, wenn man in Japan die Arbeit niederlegt. Charles Spencer Chaplin, meint er, wäre über seine Gedanken wohl nicht sehr erfreut. Die wichtigsten Dinge im Augenblick, erzählt er mir, seien doch die Liebe zu seiner Familie und die Menschlichkeit. „Even my family is crying, should I back to there for my work?” Er bittet mich um Rat, er sei zu verwirrt.
Seine Nachricht verunsichert  auch mich. Ich höre von Menschen, die in Tokio wieder normal arbeiten gehen, Einkaufen, Tennis spielen. Wie soll ich mich in diese Situation hineinversetzen, mich richtig verhalten? H. traut einer totalitären Informationspolitik nicht, sein Facebook App ist sein Draht zur Welt. Ich rede mit Linda über Radioaktivität. Darüber, wie die Strahlung deine DNA zerstört. Der wohl schrecklichste aller Tode. Die Veränderung deines Erbmaterials, die Zerstörung deiner Zellen von Innen heraus. Wir verwandeln uns, die Haare fallen uns aus. Wir mutieren. Ich rate H. davon ab, wieder zurück in den Norden zu fahren. Sein Land erlebt gerade die größte Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg. Das müsse er sich vor Augen halten und dazu seine Entscheidungen treffen.
Einige Stunden später. H. dankt mir für meinen Rat. Er überlegt, das Land zu verlassen. Er spricht mit Freunden in Tsukaba. „I just say please care your life more than work.” Sein Vater redet ihm zu, ein alter Atomkraftgegner, wie er mir berichtet, der vor dreißig Jahren durch seinen Protest den Bau eines Werkes in Oita mit verhinderte. „I want to make a plan to escape from here as soon as possible.”
Die zweite Reaktorhülle explodiert. Die Regierung Japans spricht immer noch von keiner Gefahr. Europäische Medien bestätigen eine radioaktive Wolke. Der Wind dreht sich heute Nacht. Die Wolke zieht Richtung Tokio. Es wurde Regen vorhergesagt. H. schreibt mir, er hat heute seinen Vater zum ersten Mal in seinem Leben weinen gesehen.
H. bleibt im Süden. Wir schreiben uns täglich Nachrichten über Facebook. Er fürchtet sich, daß der Wind vom Meer abdreht und sich erneut Richtung Tokio bewegt. „Please press from oversea. We need to power from oversea.” Mit jeder Nachricht wirkt er trauriger. Wir erzählen uns von unseren Familien. Gern würde er mit ihnen uns Ausland flüchten. Aber sie müssen Geld verdienen, haben Schulden zu tilgen. H. denkt viel nach. Hat Panik, wirkt extrem bedrückt. Die Kluft zwischen einer atomaren Katastrophe und dem Druck des normalen Lebens treibt die Menschen in eine gespenstische Zwischenwelt. Inzwischen sind vier Reaktoren außer Kontrolle, die austretende Radioaktivität steigt stetig an. Das Schicksal Japans erschlägt und macht uns sprachlos. Durch Facebook wurden die Bilder dieses postmodernen Katastrophenszenarios für mich fassbar und real, die unglaublichen Aufnahmen personalisierten sich in den ängstlichen Worten des Users H.
Jede Stunde starre ich auf mein Smartphone und hoffe auf eine gute Nachricht aus Japan. Facebook gibt dem Horror ein Gesicht. H. und ich sind uns einig, dass wir den Aussagen der Regierungen nicht trauen. „Bit difficult to think about money and life. I only hope to get good for life.”