Auch ich hatte das ganze Spektakel schon längst wieder vergessen. Viel zu beschäftigt war ich mit der Arbeit, die meine Frau und mich seit Monaten extrem einspannt und uns schlaflose Nächte bereitet. Gedankengänge und Diskussionen über Burn-Out und diesen sinnlosen Tipps, die alljährlich die ebenso sinnlosen Prospekte der Krankenkassen füllen, rauben uns seit Wochen den Schlaf. "Jeden Tag eine Stunde spazieren gehen", oder "einfach mal sagen, jetzt ist Schluss für heute", das ist die geistreiche Erkenntnis, die nur in den Latte-Macchiato Think-Tanks einer Mittdreißiger-Generation keimen konnte, die niemals körperlich und seelisch mit der echten Arbeitswelt da draußen in Kontakt treten musste.
Wir schlossen diesen Kontakt schon vor Jahren, und so renne ich, mehrfach gealtert und gemartert von täglichen Meldungen aus Syrien, von Blutbädern, Vergewaltigungen, Menschenrechtsverletzungen, der Verfolgung systemkritischer Internetblogger, von Unterdrückung, Krawallen und Aufständen im Süden Europas, Existenzängsten und Zukunftssorgen, gequält vom Entsetzen über die Inhaftierung von Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina, von Menschenrechtsverletzungen, Überstunden, Schlafmangel, Freizeitstress, Geldsorgen, Turbokapitalismus, Standard & Poors und jetzt auch noch Markus Lanz, ja, genau so vollbepackt renne ich gestern viel zu gestresst über den Marktplatz und so ein kleiner Gnom steht plötzlich mit seiner Laterne vor mir und wackelt freudig mit dem müden Lichtchen hin und her. Jeder halbwegs normale Mensch wäre wohl in Entzücken geraten bei dem pausbäckigen Anblick. Wie er da völlig sinnlos und doch voller Erwartung mit seiner dösigen Laterne in der Hand so mir nichts, dir nichts durch diese raue Welt wackelt. Mich hat es irgendwie ganz furchtbar traurig gemacht. Naja, muss wohl am November liegen.